Die Verspannung in Kristallgittern ist ein Maß für lokale oder globale Abweichungen von der idealen periodischen atomaren Anordnung. Diese Abweichungen führen in der Regel zu veränderten physikalischen Eigenschaften von kristallinen Materialien. Während dieser Effekt in einigen Fällen nachteilig sein kann, wird er im Bereich des Halbleitertechnik häufig genutzt, um die Materialeigenschaften für eine spezifische technologische Anwendung zu optimieren. Dieses Konzept ist besonders wichtig in Bereichen wie der Mikroelektronik, der Optoelektronik und der Photonik, wo kleine Abweichungen des Gitters signifikante Auswirkungen auf das Materialverhalten haben können.
Es gibt verschiedene Ansätze, um Gitterverspannung in einem funktionalen Material oder Bauteil einzubringen oder abzubauen. Dazu gehören Legieren, das Aufwachsen dicker Pufferschichten oder Mikrostrukturierung, um die geometrischen Grundbedingungen umzugestalten. Traditionell ist es jedoch schwierig, die durch Strukturierung resultierenden mikroskopischen Gitterverzerrungen zu verstehen oder zu messen, da die meisten experimentellen Methoden nur einen Zugang bestimmten Komponenten des Verspannungstensors erlauben. Im Gegensatz dazu hat die aktuelle Studie demonstriert, dass mithilfe von 5D-Röntgendiffraktionsmikroskopie beispiellose Einblicke in die Verspannungsverteilung in einer Ge1-xSnx/Ge-Mikrostruktur gewährt werden (Abb. 2), welche durch epitaktische Fehlpassung, Legierungsbildung und Mikromusterung entstehen. Die Technik basiert auf einem feinen Röntgenstrahl, der auf einen Größe von ca. 50 nm fokussiert wird und erlaubt, eine mikroskopische Probe in Beugungsgeometrie zu abzuscannen. Basierend auf von IKZ-Wissenschaftlern entwickelten theoretischen Grundlagen konnte der vollständige Verspannungstensor durch Kombination mehrerer solcher Messungen rekonstruiert werden.
Ge1-xSnx-Legierungen haben einstellbare elektronische und optische Eigenschaften, was sie ideal für moderne Halbleiteranwendungen macht. Die Funktion der untersuchten Ge1-xSnx/Ge-Bauteile als Infrarot-Laser beruht auf der Einstellung des Zinngehalts von x ≈ 11 % und elastischer Spannungsentlastung durch lithografische 3D-Stukturierung. Dabei dienen diese Maßnahmen dazu, die Bandlücke von indirekt nach direkt zu verschieben und die Lasertemperatur zu erhöhen. Durch die Vermessung aller (Scher- und Normal-) Komponenten (Abb. 1) der Gitterverspannung innerhalb der Mikrostruktur konnten verschiedene Beiträge von Gitterfehlern, Legierungsschwankungen und der Strukturierung deutlich unterschieden werden. Darüber hinaus ermöglichte die hohe Eindringtiefe der Röntgenstrahlen eine tomografische Ansicht verschiedener Schichten in der Heterostruktur. Die gewonnenen Ergebnisse konnten anschließend für einen Abgleich mit modernen theoretischen Modellen zur Vorhersage der Gitterverspannung verwendet werden.
Die Experimente wurden am Europäischen Synchrotron (ESRF) unter der Leitung des IKZ und in Zusammenarbeit mit Partnern vom IHP – Leibniz-Institut für innovative Mikroelektronik in Frankfurt (Oder), der RWTH Aachen, der Universität Mailand-Bicocca, dem Forschungszentrum Jülich und dem CNR-Institut für Mikroelektronik und Mikrosysteme, Italien, durchgeführt. Die demonstrierte Möglichkeit, Gitterspannungen in 3D-Mikrostrukturen mit hoher Präzision und hoher räumlicher Auflösung zu vermessen, eröffnet neue Wege für die maßgeschneiderte Gestaltung von Materialeigenschaften auf der Nanoskala, die letztendlich zur Entwicklung effizienterer elektronischer und optoelektronischer Bauteile führen können.